«Autonomie sieht anders aus» – mit dem Rollstuhl auf öV-Tour durch Basel

«Autonomie sieht anders aus» – mit dem Rollstuhl auf öV-Tour durch Basel

Ende 2023 müssten in der Schweiz alle Tram- und Bushaltestellen ohne Rampe für Rollstuhlfahrer befahrbar sein. Die Region Basel ist noch lange nicht soweit. Wir haben Francesco Bertoli auf eine Trämli-Tour begleitet und zeigen auf, was Barrierefreiheit für ihn bedeuten würde.

Wir treffen Francesco Bertoli an seinem Wohnort Pratteln, an der Endhaltestelle des 14-er Trams. Es ist kühl, und Bertoli hat sich warm in einen hellblauen Parka eingepackt. In den nächsten zwei Stunden wird er uns das ÖV-Netz der beiden Basel aus seiner Perspektive zeigen. Bertoli sitzt in einem elektrischen Rollstuhl. Als Präsident des Behindertenforums Basel ist er viel unterwegs und kennt die Knackpunkte unseres öffentlichen Verkehrs.

Als Erstes wollen wir mit dem 14-er- Tram in Richtung Innenstadt fahren. Bertoli stellt seinen Rollstuhl ganz vorne an die Haltestelle, ins sogenannte Aufmerksamkeitsfeld. Nur hier kann er sich sicher sein, dass er vom Chauffeur nicht übersehen wird. «Es ist auch schon vorgekommen, dass mich einer nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte». Der Chauffeur dieses Trams ist gestresst, er ist mit einigen Minuten Verspätung unterwegs. Wortlos steigt er aus und klappt die Rampe der zweitvordersten Tür herunter, sodass Bertoli hineinfahren kann. «Wir fahren bis zur Rheingasse», gibt Bertoli an. Jetzt kann er sich nicht mehr umentscheiden, denn an den meisten Haltestellen ist er auch beim Aussteigen auf den Chauffeur angewiesen. «Autonomie sieht anders aus», so Bertoli.

“Dieser Ausstieg ist kriminell”

Eigentlich sollten Ende 2023 alle Haltestellen so gestaltet sein, dass Rollstuhlfahrer ohne Hilfe überall aus- und einsteigen können. Das fordert das Behindertengleichstellungsgesetz, das 2004 in Kraft getreten ist. Doch heute, fünf Jahre vor der Umsetzungsfrist, ist die manuell bediente Rampe fast überall noch Realität. Das Problem dabei: Die Rampe braucht Platz, sodass der Rollstuhlfahrer problemlos darum herum manövrieren kann. Vielerorts wird genau das zum Verhängnis. Bertoli weiss auf vielen Strecken genau, wo er aussteigen kann und wo nicht. Auf dem Weg in die Stadt fahren wir durch Muttenz. Station Rothausstrasse Richtung Pratteln: «Hier ist der Ausstieg viel zu schmal»; Muttenz Dorf: «Hier steht ein Billettautomat direkt vor der Rollstuhl-Tür.»

In der Stadt gehts ähnlich weiter. Am Bankverein ist die Insel zum Aussteigen in die eine Richtung so schmal, dass Bertoli keine Chance hat, auszusteigen. Zu gross wäre die Gefahr, dass der Rollstuhl über die Rampe auf die Strasse rollt oder gar umkippt. Auch an der Schifflände in Richtung Kleinbasel würde er nie aussteigen. «Der Ausstieg geht direkt auf die Strasse, das ist regelrecht kriminell».

An der Rheingasse steigen wir zum ersten Mal aus. Diese Haltestelle ist neu gemacht, der Ausstieg ist ebenerdig, wie künftig alle Halltestellen sein sollten. Wir bleiben ein paar Minuten stehen, bis ein Bus neben uns hält. «Hier komme ich nicht rein», sagt Bertoli. Der Bus könne sich wegen der hohen Kante nicht absenken. Auch die Rampe kommt nicht infrage, weil sie sich bei der zu geringen Neigung nach oben wölben würde.

«Es braucht eine ziemlich akribische Planung, wenn man sich mit Tram und Bus fortbewegen will», erklärt Bertoli. Wir wechseln die Strassenseite und steigen ins 6-er-Tram. Die Strecke nach Allschwil ist laut Bertoli eine der schlimmsten. Hier reiht sich Haltestelle an Haltestelle, kaum eine ist zum Aussteigen für Rollstühle geeignet, auch nicht mit Klapprampe. «Einmal bin ich an der Station Kirche ausgestiegen», erzählt Bertoli. «Dann stand ich da auf dieser Verkehrsinsel und kam nicht mehr weg, weil es keine Absenkung gab, an der ich die Strasse überqueren konnte.»

Behindertenverbände wurden übergangen

An der Endstation kann Bertoli mühelos aussteigen – ein wenig geübter Rollstuhlfahrer hätte hier aber Schwierigkeiten bekommen, meint er. Auf der Rückfahrt erklärt Bertoli, nicht nur die Haltestellen seinen ein Problem, sondern auch das Rollmaterial. «Die Flexity-Trams der BVB sind bis jetzt aus Rollstuhlfahrer-Sicht die Schlechtesten.» Die Klapprampen seien kleiner und schmaler als die vorherigen, der Platz im Tram reiche höchstens für zwei Rollstühle, «dann wirds kritisch». Von den neuen Trams erfuhren die Behindertenverbände laut Bertoli erst, als der Kauf schon getätigt war.

Auch die BLT-Trams seien nicht perfekt, sie hätten jedoch die Vorteile von breiteren Rampen und dass man per Rollstuhl-Knopf dem Chauffeur anzeigen kann, wann man aussteigen möchte. «In den Flexity-Trams bewirkt der Rollstuhl-Knopf nur ein allgemeines Halte-Signal», erklärt Bertoli. Was die Busse angeht, sei die Situation weniger dramatisch. «Sie sind flexibler und können meistens so anhalten, dass man mit der Rampe aussteigen kann», erklärt Bertoli.

Natürlich sei ihm bewusst, dass das ÖV-Angebot im Vergleich zu früher heute geradezu luxuriös ist. «Früher war ich auf den Behindertentransport angewiesen, den ich sechs Tage im Voraus buchen musste.» Heute kann er sich zwar selbstständig bewegen, das ist aber mit einem grossen Aufwand verbunden. So ist er auch enttäuscht, dass die behindertengerechte Umgestaltung der Haltestellen so lange dauert. «Man muss sich immer wehren, nichts passiert von selbst.» Der Termin Ende 2023 ist für ihn eine Illusion: «Das schaffen die nie im Leben.»

Der Umsetzungsbericht des Regierungsrats Baselland gibt ihm recht. 278 Bushaltestellen bleiben 2023 nicht umgebaut, es fehlt das Budget. Auch nicht alle Tram-Haltestellen, die in der Verantwortung des Kantons liegen, werden fertig sein. Es dürfte noch lange dauern, bis sich Rollstuhlfahrer in der Region ohne Planung und Hilfe mit Bus und Tram bewegen können.

Diese Reportage ist in der Schweiz am Wochenende vom 15. Dezember 2018 erschienen. Bilder: Roland Schmid.